Seit bald einem Monat kann man bei uns den zweiten Teil von Peter Jacksons Hobbit-Trilogie sehen und – wie bei Filmen dieser Art üblich – mit dem Buch vergleichen, was auch allerorts fleißig getan wird. Tolkienpuristen (also diejenigen, die sich bis heute nicht damit abgefunden haben, dass damals in Die Zwei Türme plötzlich Elben bei Helms Klamm auftauchten, die dort nach jeder historischen oder geographischen Logik von Mittelerde nichts verloren hatten) fürchteten vor allem eins: Bereits vor Erscheinen des ersten Hobbits waren Bilder vom Set aufgetaucht, die eine Frau zeigten, zu allem Überfluss auch noch eine Kriegerin. Damit war die Abweichung von der Romanvorlage vorprogrammiert, denn dort kommen die Riesenspinnen von Düsterwald einer handlungsrelevanten weiblichen Figur am nächsten. Erstmalig hat also Regisseur Peter Jackson seinem Tolkien-Universum eine Frau hinzugefügt, anstatt wie bisher die Rollen der bereits existierenden auszuweiten. Eigentlich eine verständliche Entscheidung: Gerade heutzutage möchten Filme nur ungern auf weibliche Nebenfiguren verzichten und die Vorlage bietet keinem Charakter, der an den Hobbit-Schauplätzen hätte auftauchen können, ohne stark von seinen vorgegebenen Hintergründen abzuweichen und Fans so erst recht zu verärgern. In einem Interview mit Den of Geek! beschreibt Co-Autorin Philippa Boyens, wie erste Überlegungen dem Bogenschützen Bard einfach eine Ehefrau zur Seite zu stellen fallengelassen wurden zu Gunsten einer eigenständigen Person:
The whole idea that she would be a fighter, once we decided to make a female character, became part of the decision. We asked, where does she come into the storytelling? Here would be a good place. She’s an Elf. What kind of Elf? Then you suddenly realise that she needs to be a guard, because that’s how she can interact with all these characters – there really isn’t another way to do it.
Trotzdem hatte man als Tolkien-Fan Bauchschmerzen, als die Elbenkriegerin Tauriel, gespielt von Evangeline Lily, was Merchandise und Filmplakate anging immer präsenter wurde.
Sorgen konnte man sich natürlich nicht nur, ob Tauriel dem Tolkien-Universum gerecht wird, sondern auch darum, ob sie überhaupt einen funktionierenden und dreidimensionalen Charakter abgeben würde. Mein persönliches Worst Case Szenario war offen gestanden eine halbherzig dazugedichtete Elbin ohne größere Sprechrolle, die eigentlich nur als Love Interest für Fan-Liebling Legolas alias Orlando Bloom dient – alles in allem ziehe ich einen Film ohne weiblichen Nebencharakter einem Film mit schlecht geschriebenen Charakteren vor. Aber wie lautet nun das Urteil über die bereits so früh umstrittene Elbenkriegerin? In aller Ehrlichkeit: sie ist ok. Ich ordne mich selbst durchaus unter den Tolkienpuristen ein, insofern ist dies das größte Lob, das sie von mir als neu erdichteter Charakter bekommen kann, aber dafür hat sie es auch wirklich verdient. Evangeline Lily, deren schauspielerisches Talent ich anhand von Lost wirklich nicht beurteilen konnte, macht ihre Sache in Ordnung, für größere Leistungen auf diesem Gebiet gibt ihr die Rolle allerdings auch wenig Raum. Tauriel wirkt keinsfalls fehl am Platz, ihre Actionszenen sind großartig und lassen sie nicht hinter ihrem Waffengefährten Legolas zurückstehen und aus ihrer (verhältnismäßigen) Jugend leiten ihre Schöpfer nicht etwa Naivität, sondern Weltoffenheit und einen großen Tatendrang ab. Zu meiner eigenen Überraschung sah ich mich also aus dem Kino kommend entschlossen, den elbischen Neuzugang gegen Kritik zu verteidigen.
Dass diese Kritik zwar vorhanden ist und rege betrieben wird, einem im (Nerd-)Alltag aber kaum begegnet, hat vor allem zwei Gründe. Zum einen ist sie verhaltener geworden, seit der Film tatsächlich angelaufen ist, denn es gibt wahrlich größere Probleme, die man als Tolkien-Anhänger mit ‚Smaugs Einöde‘ haben kann. Von zu kurz gekommenen Figuren (Beorn) über zu ausgeweitete Figuren (Bard) bis hin zu Detailfragen (Athelas heilt den schwarzen Atem der Nazgûl und auch wenn es auf müde Geister belebend wirken mag ist es doch kein Mittel gegen Gift, schon gar nicht ohne die heilenden Hände eines Königs) entfernt sich Peter Jackson so häufig von der Vorlage, dass ein zusätzlicher Handlungsstrang mit Elbenkriegerin kaum ins Gewicht fällt. Zum anderen ist – und das soll hier nicht verschwiegen werden – das Mittelerde-Fantum einfach keine Shitstorm-Kultur. Nicht nur fühlen sich scheinbar überall im Internet so viele Tolkien-Experten dazu berufen unreflektierte Rants zu antizipieren und abzulehnen, dass man bei Recherchen Schwierigkeiten hat Kritiker zu finden ohne sich vorher durch zahllose Verteidigungen zu klicken, nein, selbst Seiten wie die offizielle „Tolkien-Fans against Tauriel“ Facebook Page kommen ohne direkte Angriffe und mit erstaunlich wenig substanzlosen Hass-Posts aus, bieten dafür aber differenzierte und nachvollziehbare Begründungen für ihre Bedenken gegenüber der Figur. Dieser Umstand erstaunte mich zunächst, allerdings erhielt ich den Hinweis, dass kaum jemand sich durch drei Bände Der Herr der Ringe nebst Silmarillion und eventuell noch das Buch der verschollenen Geschichten arbeitet, um danach einem Troll-Post noch irgendeine Form von Befriedigung abgewinnen zu können.
Was den tatsächlichen Inhalt der Kritik angeht hat der „Ask About Middle Earth“-tumblr eine kommentierte Liste der einzelnen Punkte erstellt, an denen Fans sich zu stören scheinen. Neben der unbestreitbaren Tatsache, dass sie keine kanonische Tolkien-Figur ist, stellt offenbar Tauriels Rolle als Kriegerin für manche Leute ein Problem dar, schließlich steht im Hobbit kein Wort von weiblichen Wachtposten in Thranduils Palast. Nun tut es mir ja leid für alle, die beim Lesen irgendeinen Mehrwert daraus zogen, sich lauter geschniegelte Elben in ihrer vollen männlichen Pracht vorzustellen, aber für mich persönlich ist das Hinzufügen einer Kriegerin noch nicht einmal ein Bruch mit dem Kanon. Ich war sehr jung, als ich den Hobbit zum ersten Mal las, und da Tolkien nirgendwo ausdrücklich schreibt, dass die Elben von Düsterwald traditionelle Geschlechterrollen wertschätzen, war es für mich absolut selbstverständlich, dass es Elbenkriegerinnen gibt. Im Herr der Ringe und auch im Silmarillion wurde diese Vorstellung nicht angefochten – Galadriel selbst zieht im ersten Zeitalter sogar in die Schlacht – also blieb sie für mich einfach bestehen. Verständlicher ist da das Argument, nach dem Tauriel nun eine weitere Figur mit eigenem Erzählstrang ist, die unweigerlich den Fokus noch weiter von Bilbo Beutlin, unserem eigentlichen Helden, entfernt. Allerdings hängt dies schwerlich mit einem einzelnen Charakter zusammen, sondern bezieht sich auf die gesamte Erzählweise des Films und taugt dementsprechend wenig als Begründung für eine spezifische Abneigung. Gleiches gilt für Unzufriedenheit mit ihrer zugegebenermaßen zentralen Rolle beim Marketing des Films. Es ist grober Unfug eine Figur danach zu beurteilen, wie häufig sie auf T-Shirts gedruckt und in Trailern gezeigt wird. Himmel, als 1862 Les Misérables erschien und man beschloss Bayards berühmte Zeichnung als Titelbild zu nehmen, haben die Leute auch nicht gesagt „Ich kann Cosette nicht ausstehen, sie stiehlt den anderen Charakteren die Show“.
Es verbleiben also die beiden Kritikpunkte, die ich tatsächlich teile. Der erste ist so nerdig, dass ich nicht anders kann als ihn hier positiv zu erwähnen. Problem ist hier nicht die Figur Tauriel selbst, sondern ihre Haarfarbe. Man muss wissen, rothaarige Elben sind eine Seltenheit und tatsächlich ist nur eine Familie bekannt, deren Nachkommen dieses Merkmal tragen. Dabei handelt es sich allerdings um Hochelben, die bereits im ersten Zeitalter in den Westen gingen. In Mittelerde dürften nur drei Söhne Feanors rothaarig gewesen sein, über deren Verbleib im dritten Zeitalter – gegen dessen Ende unsere Geschichte spielt – nichts mehr bekannt ist, jedoch stünden sie hierarchisch noch über Elrond und entsprechend weit über den einfachen Sindar von Düsterwald. Dementsprechend ist Tauriels rötliche Haarpracht äußerst unwahrscheinlich. Da es sich hierbei um eine Argumentation auf höchsten Tolkien-Niveau handelt ist es als ernst gemeintes Argument gegen eine Filmfigur allerdings vollkommen hinfällig. Mit diesem Genauigkeitsanspruch hätten wir schon die Herr der Ringe-Filme als völlig unplausibel verurteilen müssen.
Schließlich bleibt als Kritikpunkt nur das offenbar unvermeidliche Disaster mit der Lovestory. Keine Frage beschäftigt so sehr wie die nach der Notwendigkeit einen starken weiblichen Charakter zu schreiben, um ihm sofort – man möchte meinen reflexartig – nicht nur einen sondern gleich zwei potentielle Liebhaber zuzuordnen und so gewissermaßen als Bonus eine teenagertaugliche Dreiecksbeziehung zu generieren. Und hier komme ich tatsächlich zu dem einzigen Aspekt, der mich an der Figur Tauriel nicht überzeugt. Eine Lovestory mag ja an sich nichts schlechtes sein und ich möchte keinesfalls behaupten, dass Frauen in Geschichten durch romantische Interessen generell abgewertet werden, aber in diesem Fall muss ich mich schon sehr anstrengen, die erzählerisch plump wirkende Romanze zwischen der schönen Kämpferin und dem Zwerg Kíli nicht direkt gegen sie verwenden zu wollen. Dabei rührt mein Ärger vor allem von dem Gefühl einer verpassten Chance her. Hier gab es die Möglichkeit und den guten Willen eine starke und eigenständige Frauenfigur für Mittelerde zu entwerfen, die gleichzeitig den Beweis hätte liefern können, dass nicht jeder gute Film eine Liebesgeschichte braucht und dass romantische Anwandlungen erzähltechnisch nicht die einzig denkbare Motivation zwischen männlichen und weiblichen Charakteren sind, und stattdessen entsteht ein Subplot, der direkt aus einem Twilight-Film zu stammen scheint. Die Romanze widerspricht nicht nur allen Gesetzen und Geschichten von Mittelerde – was zähneknirschend hinzunehmen wäre – , sondern trägt zum Verlauf der Story nichts Substanzielles bei und gehorcht den üblichen Regeln der Hollywood-Liebe: minimale Interaktion ergibt bei hoher Attraktivität als auffälligster Gemeinsamkeit nunmal romantisches Interesse. Das können auch ein nostalgisch aufgeladener Runenstein und ein Gespräch über jeweilige Beleuchtungsvorlieben nicht vertuschen. Dass der Versuch, durch Legolas‘ Interesse an Tauriel weitere Spannung zu erzeugen, erst im letzten Moment nachträglich hinzugefügt wurde kann kaum überraschen und wirkt deutlich interessierter an hohen Verkaufszahlen als an einer gut erzählten Geschichte. Traurigerweise fallen mir von Life of Pi bis The Dark Knight Rises eine ganze Reihe von Filmen ein, die in den letzten Jahren durch halbherzig hinzugefügte Liebesgeschichten deutlich verloren haben und ich hoffe wirklich, dass mutigere Drehbuchautoren das in den nächsten Jahren langsam mal in den Griff kriegen.
Insgesamt ist Tauriel zwar kein uneingeschränktes Beispiel für einen einer bestehenden fiktiven Welt perfekt hinzugeschriebenen Charakter, aber dafür zeigt ihre Rezeption unter Fans, wie eine solche Figur idealer Weise aufgenommen werden kann. Es scheint ein starkes Bewusstsein dafür zu geben, dass eine für mehr Diversität sorgende Abweichung von der Romanvorlage nicht als Kritik am und damit direkten Angriff auf das Original verstanden werden muss. Im Ergebnis fühlt sich fast niemand persönlich auf die Zehen getreten und so nimmt die Tolkien-Gemeinde das zeitgenössische „Update“ ihrer Welt höchstens mit leisem Murren hin. Seit dem Zeichentrickfilm von 1978 ist man Kummer sowieso gewöhnt. Und wenn sich dieses Murren dann noch primär auf die erzwungene Liebesgeschichte als eher rückständiges Klischee für einen gewollt fortschrittlichen Charakter bezieht, dann lässt die Reaktion doch wirklich wenig zu wünschen übrig.
Sollte Gal Gadot 2015 als Wonder Woman (die ja nun weiß Gott kanonischer nicht sein könnte) ebenso differenziertes Feedback bekommt, verdient die Geekkultur einiges an Respekt.